75 Jahre gemeinsam stark für Bildung im Landesverband der Volkshochschulen von NRW
Seit einem Dreivierteljahrhundert verschaffen sich die Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen über ihren Landesverband bildungspolitisches Gehör und gestalten die Zukunft des Bundeslandes mit. Die Leitidee Bildung für alle hat in all den Jahren nichts an Bedeutung eingebüßt, auch wenn sich die Herausforderungen heute anders stellen als unmittelbar nach dem Krieg.
Demokratie gedeiht dort, wo Menschen frei sind und Möglichkeiten haben, sich vielseitig zu informieren, sich eine Meinung zu bilden und sie zu diskutieren. Sie entwickelt sich dort, wo Menschen Meinungen konstruktiv in Frage stellen, Neues erlernen und erfahren können. Dies sind zentrale Funktionen der vhs, die als Institution eine Säule der Demokratie in unserem Land ist. Volkshochschulen stehen seit jeher in einer demokratischen und aufklärerischen Tradition. Ausgangspunkt sind die Grundannahmen, dass Bildung Menschen in die Lage versetzen kann, eine sich wandelnde Gesellschaft zu gestalten, und dass grundlegende Kompetenzen und Wissen in jedem Alter erfolgreich zu erwerben sind.
Nicht zufällig gab es daher vhs-Gründungswellen in den Nachkriegszeiten, in den frühen Jahren der Weimarer Republik ebenso wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor 75 Jahren waren Nazi-Diktatur und Weltkrieg gerade erst überwunden. Es galt, eine demokratische Gesellschaft aufzubauen. Nach dem Ende der Diktatur machen sich im späteren Bundesland NRW nicht nur Intellektuelle für die Neubelebung der Volkshochschulen stark. Auch die britischen Besatzungsbehörden fördern die Erwachsenenbildung als Teil von Re-Education und Reconstruction, zur Wiederbelebung von demokratischen Traditionen in einem Land, das gerade erst von 12 Jahren Nazi-Herrschaft und 6 Jahren Weltkrieg befreit war. In den Volkshochschulen ging es nie um eine politische Zwangserziehung oder Meinungskorrektur, sondern um den intellektuellen Neuanfang. Sie wollten einer neuen Kultur, einer kritischen Wissenschaft und Perspektivvielfalt im befreiten Deutschland zum Durchbruch zu verhelfen. Eine beeindruckende Zahl von Kursen konnte rasch angeboten werden. Lehrkräfte von Schulen und Hochschulen, Wissenschaftler*innen, Stadträt*innen und Amtsleitungen, Ärzt*innen, Pfarrer und viele mehr unterstützten als Dozierende an Volkshochschulen praktisch den Aufbau der Demokratie.
Ein Beispiel ist ein Kurs in „Englischer Zeitungskunde“. Die Programmplanenden begründeten dieses Angebot folgendermaßen: „Das deutsche Volk hat in den Jahre 1933 bis 1945 immer mehr die Verbindung mit dem Weltgeschehen verloren. Durch vollständig einseitige Unterrichtung wurde das Bild der Beziehungen der Völker untereinander und zu Deutschland unklar und verschwommen. Die Folgen sind auch heute noch spürbar. Das deutsche Volk versteht die Welt nicht und fällt daher auch täglich neuen Gerüchten anheim. Es soll daher versucht werden, unter Zugrundelegung der Meinung in der englischen Presse ein wenig Klarheit in dieser Beziehung zu vermitteln.“
Im September 1947 schließen sich die redemokratisierten und neu gegründeten Volkshochschulen von Nordrhein-Westfalen in einem Landesverband zusammen. Seine Aufgabe ist die Vertretung der gemeinsamen Interessen von vhs gegenüber dem Land, den Besatzungsbehörden und den Kommunen. Volkshochschulen waren immer kommunale Einrichtungen und sind auch im neu gegründeten NRW in den Gemeinden verankert. Der erste Vorsitzende des neu gegründeten Verbandes Dr. Konrad Maria Krug und der Geschäftsführer Dr. Fritz Minster fassen die Aufgabe so zusammen: „Das Ziel […] ist darin zu erblicken, den Verband zu einer lebendigen, wirksamen Körperschaft auszubauen und die Volkshochschulen mit den vielfältigen Aufgaben der Erwachsenenbildung und dem sich hieraus ergebenen besonderen Auftrag des Landesverbandes vertraut zu machen.“ Der Landesverband werde „für eine zweckmäßig und sachdienliche Verwendung der staatlichen Subventionen sorgen und die Volkshochschulen in organisatorischen und methodischen Fragen beraten“.
Erarbeitet wird ein Plan für die Arbeit auf Bezirks- und Kreisebene unter Einbezug der Plettenberger Geschäftsstelle des Landesverbandes. Der Arbeitsplan sieht die „Schaffung einer engen, freundnachbarlichen Zusammenarbeit der dem Verband angeschlossenen Volkshochschulen“ vor. Weiterhin soll die „ständige Verbindung mit den Herren Erziehungsoffizieren der Militärregierung (Education Branch), mit allen Verbänden, Bildungswerken und den Gewerkschaften“ gehalten werden.
Die Gewinnung von pädagogischem Personal ist schon 1949 ein wichtiges Anliegen: „Eine besondere Sorge des Verbandes gilt dem in der Erwachsenenbildung tätigen Menschen. […] Es muß unser gemeinsames Ziel sein, das geistige Niveau unserer Volkshochschulen so hoch und unantastbar wie nur möglich zu entwickeln. […].“
Und nicht zuletzt spielt die Öffentlichkeitsarbeit bei der Gründung des Landesverbandes eine große Rolle, „um den Ergebnissen der Arbeit unserer Volkshochschulen sowohl der Oeffentlichkeit, als auch den Hochschulen und anderen Bildungswerken gegenüber größere Beachtung zu verschaffen“. Dies insbesondere, da Anfang 1949 noch nicht alle Gemeinden in NRW eine vhs unterhalten: „Viele Städte landauf, landab gingen bisher noch nicht an die Gründung eines Bildungswerkes heran und stellen diese Planung immer wieder hinter vordrängendere Alltagsaufgaben zurück.“
Zahlreiche Aktivitäten in den Folgejahren dienen dazu, das Programm und das pädagogische Personal an den Volkshochschulen in NRW systematisch zu entwickeln, ihre Arbeit finanziell abzusichern und Mitstreitende für das Ziel des lebenslangen Lernens zu gewinnen: „Es soll unser gemeinsames Bestreben sein, einem neuen Bildungsgedanken in breiter Oeffentlichkeit Anerkennung zu verschaffen. Wir wollen unsere besten Kräfte ansetzen, um in Wort und Schrift die Unentschlossenen zu überzeugen und in wirksamen Werbeveranstaltungen der guten Sache überall neue Freunde zu gewinnen.“
In Summe sind die Kernaufgaben des Verbandes damit auch heute noch treffend beschrieben.
Mit Gründung des Landesverbandes 1947 verbunden war das Streben der Volkshochschulen nach einer Rechtsgrundlage für ihre Arbeit und deren Förderung. Zunächst wurde versucht, eine Zuständigkeit des Bundes für die Volkshochschulen zu erwirken. Ziel war das Anknüpfen an die Weimarer Reichsverfassung, in der festgeschrieben war: „Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.“
1948 erfolgte ein Vorstoß aus NRW, als der Marler Volkshochschulleiter Bert Donnepp im Namen des Landesverbandes ein Schreiben an den Präsidenten des Parlamentarischen Rates Konrad Adenauer richtet. Darin heißt es: „Eine für die werdende Demokratie fruchtbare Volks- und Erwachsenenbildung kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur Bestand haben, wenn die Träger dieser Bildungsarbeit – die Volkshochschulen – eine gesetzliche Verankerung ihrer Arbeit erfahren.“ Damals winkte der Bund jedoch ab und verwies an die Zuständigkeit der Länder für Bildungsfragen.
Diese Zuständigkeit ist bis heute beim Land geblieben. Die Verfassung des Landes NRW sieht die Förderung der Erwachsenenbildung und damit der Volkshochschulen in §17 vor. NRW gab sich selbst 1953 als erstes Bundesland ein Weiterbildungsgesetz und nimmt in dieser Frage bis heute eine führende Stellung unter den Ländern ein.
Die Weiterbildung gilt in NRW als gleichberechtigter Teil des Bildungswesens. Die vhs ist „Pflichtaufgabe“ der Gemeinden. Die Kommunen müssen Volkshochschulen unterhalten, um ein ortsnahes umfangreiches Weiterbildungsangebot für alle Menschen in NRW anzubieten und dadurch das Recht auf Weiterbildung umzusetzen.
131 Volkshochschulen gibt es in unserem Bundesland derzeit und alle sind Mitglied im Landesverband der Volkshochschulen. Sie bieten ein vielfältiges Programm, das neben Sprachen, Gesundheitsbildung, kultureller Bildung, Medienbildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Grundbildung und dem Nachholen von Schulabschlüssen zusätzlich weiterhin Angebote zur politischen Bildung beinhaltet. Volkshochschulen verstehen sich auch heute noch – wie vor 75 Jahren, als es um einen intellektuellen und demokratischen Neuanfang nach Nazi-Diktatur und Weltkrieg ging – als kommunal verankerte „Werkstätten der Demokratie“.
Die breite Aufstellung der vhs, die ganzheitliche Bildung, die sie anbietet, ermöglicht es ihr in besonderer Weise, auf gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen zu reagieren und diese zu begleiten. Diese Funktion wurde im Zuge der jüngsten Novellierung des WbG bestätigt und unterstrichen. Die Pflichtaufgabe bleibt und neue Förderinstrumente sollen die Volkshochschulen dabei unterstützen, sich innovativ und flexibel aufzustellen für Zukunftsaufgaben und die Bildungsbedarfe einer Gesellschaft, die sich im schnellen Wandel befindet.
Jede und jeder hat das Recht, die zur freien Entfaltung der Persönlichkeit und zur freien Wahl des Berufs erforderlichen Kenntnisse und Qualifikationen zu erwerben und zu vertiefen.
§1 WbG NRW
Die Nachkriegsgründungen der Volkshochschulen und ihres Verbandes fanden vor dem Hintergrund gewaltiger Herausforderungen und Aufgaben statt, mit denen der intellektuelle Neuanfang und der Aufbau eines demokratischen Landes verbunden waren. Wenn wir in die aktuelle Gegenwart blicken, so sehen wir uns zwar anderen, aber ebenfalls großen Herausforderungen gegenüber: Unsere Welt ist in schnellem Wandel begriffen und droht, Menschen abzuhängen. Wir sind täglich mit den Auswirkungen von Pandemie und Krieg konfrontiert und jede*r von uns spürt, wie uns das fordert. Ein friedliches, demokratisches Miteinander – in der Kommune vor Ort, im Land und international – ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine permanente Aufgabe. Die vhs, die ganz unterschiedliche Teile der Stadtgesellschaft erreicht, hat eine hohe Expertise für die soziale Entwicklung und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Sie leistet auch heute ebenso unentbehrliche Arbeit.
Die Gestaltung von Zuwanderung nach Deutschland und Integration in die Gesellschaft ist nicht nur vor dem Hintergrund der jüngsten Ankunft von Geflüchteten aus der Ukraine ein bedeutendes Thema. Die vhs ist statistisch belegbar die größte Schule für Deutsch als Zweitsprache, aber sie kann noch viel mehr für das Zusammenleben leisten. Integration erschöpft sich nicht im Sprachenlernen, sondern findet umso erfolgreicher statt, wenn dies mit kultureller und politischer Bildung verbunden wird, und – wenn nötig – in das Nachholen eines Schulabschlusses oder die gezielte Qualifizierung für den Arbeitsmarkt übergeht.
Volkshochschulen sind geeignete Institutionen, um gesellschaftlichen Wandel mit Bildung zu begleiten. Im Prozess der Digitalisierung waren die Volkshochschulen schon in den 1980er Jahren die Institution, die die Einführung des PC begleitet und systematisch Digital Skills (damals „Computerkenntnisse“) vermittelt haben. Doch in Fragen der Digitalisierung geht es nicht nur um Anwendungs- und Nutzerwissen. Es geht ebenso um den Erwerb von Problemlösungskompetenzen und es geht um eine Medienkompetenz im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit medialen Entwicklungen und Gestaltungskompetenz. Das umfassende Bildungsangebot der vhs ist enorm wichtig, um den globalen Mega-Trend Digitalisierung zu begleiten. Digitalisierung soll nicht als etwas erlebt werden, was über die Menschen kommt, sondern als ein durch sie selbst gestaltbarer und beeinflussbarer Prozess.
Neu hinzugekommen in den Kanon der Pflichtaufgaben nach novelliertem WbG ist die Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE). Wir betrachten die Frage der nachhaltigen Entwicklung als Querschnittsaufgabe in allen gesellschaftlichen Fragen. Wir beziehen Nachhaltigkeit umfassend auf die Frage der sozialen Entwicklung, den gesellschaftlichen Zusammenhalt und den Schutz unserer natürlichen Ressourcen. Qualitätsvolle Bildung benennen die Vereinten Nationen als Schlüsselziel der Agenda 2030, um die international vereinbarten Nachhaltigen Entwicklungsziele zu erreichen. Um diese im ambitionierten Zeitraum bis 2030 zu erreichen, braucht es eine erwachsene Bevölkerung, die sich die Ziele zu eigen macht. Die vhs leistet in diesem Kontext mit ihrem Programm einen zentralen Beitrag.
Unsere Geschichte zeigt, dass Volkshochschulen kein „Luxus“ für gute Zeiten sind, sondern sie sind integraler Bestandteil der kommunalen Bildungslandschaft und des deutschen Bildungssystems. In einer Zeit von Fachkräftemangel, Pandemie, Krieg, Klimakrise und einem zunehmenden Auseinanderfallen der Gesellschaft ist die vhs unverzichtbar. Und für die gemeinsame Sache der Volkshochschulen ist ihr Verband unverzichtbar: für ihre „freundnachbarliche Zusammenarbeit“, ihre Programmentwicklung, die Professionalisierung und fachliche Fortbildung des pädagogischen Personals, die Vertretung ihrer bildungspolitischen und finanziellen Interessen gegenüber dem Land, die Kooperation mit Landesbehörden wie Partnerorganisationen und nicht zuletzt zur Werbung für die Leitidee der vhs. „Es ist für die Einmütigkeit unserer Forderung […] notwendig, daß alle Volkshochschulen, vertreten durch den Verband, ihre Kraft und Stimme zusammenstellen“. Diese Aussage von 1949 gilt noch heute uneingeschränkt. Im Verband sind die Volkshochschulen mehr als die Summe der Mitgliedseinrichtungen – gemeinsam sind sie die Idee der Volkshochschule: Bildung für alle, ein Leben lang.
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